Popmusik als Forstwirtschaft
Popmusik als Forstwirtschaft
09 April 2011
published by www.welt.de
Germany / United Kingdom — Seit tausend Jahren wurzelt sie im Wald von Wiltshire: die “Big Belly Oak”, die wohlbeleibte Eiche. Vor neun Jahren hatten sie die Briten offiziell getauft, zum Goldenen Krönungsjubiläum ihrer Königin. Der höflichere Volksmund nennt den Baum seit alters her “König der Äste”. In der Nähe steht das Tottenham Court House, wo sich die Rockband Radiohead gern niederlässt, um ihre märchenhaften Platten aufzunehmen. “King Of Limbs”, ihr neues Album, würdigt das Naturdenkmal nun zum Internationalen Jahr des Waldes.
Radiohead lassen ihre Musikstücke geduldig wachsen und sich ausladend verzweigen. So wie die alte Eiche vor der Tür sich in zwei Hälften spaltet und ein eisernes Korsett trägt, zwingen Radiohead in ihren Liedern deutschen Krautrock und britischen Kunstschul-Pop zusammen. Die Verpackung der CD gestaltete ein Illustrator namens Stanley Donwood. Er zeichnete Waldgeister, und unter einen Samen schrieb er das Wort “Urpflanze”. Er habe sich, sagt Donwood, von Grimms Märchen inspirieren lassen.
Wie der Wald bis heute nicht gestorben ist, lässt auch das Plattensterben auf sich warten. Musik wächst nach. Es ist kein Zufall, dass der Wald im Pop so inbrünstig besungen wird. “Deep in the forest the omens are bad”, heißt es bei Robert Wyatt. Stevie Nicks beschwört im finsteren Tann die schwarzen Rosen, Glenn Danzig irrt durch Schädelwälder, und The Cure verlaufen sich, während sie ein scheues Mädchen in der Schonung suchen.
Die Forstwirtschaft kam mit der Aufklärung in Deutschland auf, und deutsche Förster legten auch in England wieder Wälder an. Romantiker verklärten die in Reih und Glied gewachsenen Nadel- oder Laubbäume zum Zufluchtsort für die getriebene Seele der Moderne. Baumkronen wurden als grünes Zelt bedichtet und besungen, Baumstämme zum Anlehnen empfohlen. Wer am Oberrhein im Hardtwald dem Gedichtpfad folgt, stößt heute noch auf Kurt Tucholskys Nachfrage: “Und diese alten Bäume sollen dahingehen/ Sie, die nicht von heute auf morgen/ Nachwachsen?”
Für frische Luft sorgen die Wälder selbst als ökonomisch sinnvolle Kulturlandschaften. Es herrscht eine neue Waldlust in der Popkultur. In Großbritannien umarmt Vivienne Westwood öffentliche Bäume, die für Investoren ausgeschrieben werden. Im urbanen Neofolk sehen die Musiker nicht nur wie Waldarbeiter aus mit ihren Vollbärten und Schutzbrillen, sie tragen auch bevorzugt Tiernamen im Großstadtdschungel. Animal Collective, Grizzly Bear, Fleet Foxes, Caribou und Wolf Parade. “You can’t see the forest for the wolves”, heißt es bei Funeral For A Friend. “I lost my bodyweight in the forest”, freut sich die Band Midlake. Und der Deutsche Konstantin Gropper mahnt unter dem Namen Get Well Soon: “Help to prevent forest fires!”
Es tut gut, in einem Wald zu pfeifen und zu singen, den der Mensch selbst erschaffen hat. Während die unbarmherzige Natur mit ihren Erdbeben und Flutwellen die Illusion zerstört, dass sie sich kultivieren ließe. Beim japanischen Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Ôe heißt es in “Der Waldeinsiedler im Atomzeitalter”, einer rhythmischen Erzählung: “Wenn das Gift, das die radioaktive Asche ausstrahlt, alle Menschen verseucht haben wird, dann wird sich im Wald etwas ereignen, eine erstaunliche Erneuerung der Lebenskräfte. Die Kraft des Waldes wird wachsen.” Utopie wäre als Wort zu groß für einen Forst. Aber es rauscht freundlich. Wie man in den Wald hinein singt, so schallt es heraus.